
Montag, 13. Februar 2012

Erlebnis mit einem Vogel als 'Schutzengel'
Eine Werst hinter Onkel lwans Schloss lief die unendliche Wladimirskaja Chaussee. Es war eine fünfzig Meter breite, in den Urwald gehauene Schneise, ungepflastert, mit tiefen, von Pfützen bedeckten Löchern. Eine historische, eine tragische Strasse Russlands. Seit der Einverleibung Sibiriens durch Russland zur Zeit Johann des Grausamen schleppten sich politische und kriminelle Verbrecher mit zwanzigpfund-schweren Kugeln an den Füssen über diese Strasse nach Sibirien in die berüchtigten Zuchthausbergwerke. In den unermesslichen, hunderte von Kilometern weiten Wäldern hausten Wölfe, Bären, Luchse und Räuber oder auch entlaufene Zuchthäusler, die in unterirdischen Hütten im Wald ihren Unterschlupf fanden und gelegentlich Wanderer oder Pferdefuhrwerke beraubten und die Leute töteten. Alle paar Wochen gingen Nachrichten über solche Morde durch die Zeitungen.
Es war uns Kindern streng verboten, in die Nähe der Wladimirskaja Chaussee ohne Begleitung von Erwachsenen zu gehen. Aber was schmeckt süsser als die Übertretung von Verboten? Natürlich wuchsen gerade dort die schönsten und grössten Stein- und Birkenpilze, die herrlichsten Walderdbeeren, Himbeeren und Brombeeren. Und blühte nicht dort vielleicht auch die geheimnisvolle, lebenspendende blaue Blume?Wenn wir im alten Schloss von Onkel Iwan Tarlezki zum Tee waren, zog es meine Schwester und mich unwiderstehlich zur Wladimirskaja. Unter dem Vorwand, Pilze oder Beeren im Park suchen zu gehen, bewaffneten wir uns mit einem Bastkörbchen und rannten, sobald wir aus der Sicht der Erwachsenen waren, durch den Park zur sagenumwobenen Chaussee. Im Wald, der von Unterholz und Schlingpflanzen überwuchert war, denn nie sah er die ordnende Hand eines Försters, war es unheimlich dunkel. Der von Tannennadeln und Blättern bedeckte Boden war weicher als der schönste Teppich. Man hörte keine Schritte und man erschrak, wenn man auf einen morschen Ast trat, der mit einem trockenen Laut zersplitterte.
Wera meinte, sie würde so gerne den kleinen Gnomen begegnen, die sicherlich hier im Walde wohnten; aber wenn sie unvermutet dem Leschij, dem Waldgeist, einer russischen Variante des Pan, begegnen sollte, würde sie bestimmt vor Entsetzen ohnmächtig werden. "Wenn du ohnmächtig wirst, dann lasse ich dich hier einfach liegen, denk bloss nicht, dass ich dich bis nach Staroje Girejewo schleppen werde. Also nimm dich bitte zusammen und halte nicht jeden verfaulten Baumstumpf für den Waldgeist!" Aber mir war bei den strengen Worten nicht ganz wohl zumute.
Wir blieben ziemlich dicht beieinander und pflückten die duftenden Erdbeeren, deren es eine Menge gab. Wir waren in unser Tun so vertieft, dass wir nicht merkten, dass wir immer tiefer und tiefer in den Wald eindrangen. Obwohl wir Landkinder waren, verstanden wir viel zu wenig von dem Stand der Sonne, um uns daran zu orientieren. Schliesslich fragte ich: "Weisst du eigentlich, wo jetzt die Chaussee ist, wir werden zurück zum Schloss müssen." Wera schaute erschrocken aus. "Weisst du es denn nicht?" - "Nicht genau, ich habe vergessen aufzupassen; wenn wir falsch gehen, gelangen wir immer tiefer in den Wald." Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich Angst hatte, aber ich hatte tatsächlich Angst. "Bleib hier, ich gehe fünfzig Schritte in verschiedene Richtungen und suche die Chaussee, ich rufe dann ab und zu, damit du weisst, wo ich bin." Wera blieb widerwillig stehen.
Ich versuchte, hellere Stellen im Walde zu erspähen, aber es war überall gleichmässig gedämpftes Licht. Da hörte ich in meiner Nähe seltsame gurrende Laute. War es ein Wolf oder ein schnarchender Räuber, oder gar der schreckliche Leschij? Ich blieb wie versteinert stehen. Die Laute wiederholten sich, ich wagte kaum, mich umzuschauen. Die Laute kamen von einer bestimmten Stelle, schliesslich ging ich ihnen nach. Ich fand am Boden eine Wildtaube, deren Gefieder arg zerzaust war, offenbar hatte ein Sperber sie gegriffen. Ich nahm das arme Tier behutsam in beide Hände und hauchte es an. Das war dem Vogel unangenehm, denn er zog den Kopf ein. Nun rief ich Wera, sie möge schnell kommen. Sie kam und war ausser Atem.
"Was ist los, hast du den Weg gefunden?"
Den Weg hatte ich über dem Vogel ganz vergessen. "Nein, aber schau her, eine verwundete Wildtaube. Wenn wir sie hier liegen lassen, holt sie der Fuchs. Wir müssen sie retten und nach Hause bringen." Wera streichelte das Tier. "O, die Arme, sie darf nicht verkommen, wir wollen sie pflegen!" Aber der Vogel entschlüpfte meinen Händen und hüpfte weg. Wir stürzten ihm nach. " Er weiss nicht, dass wir ihm wohl wollen, der Dumme! " Er versteckte sich in der moosbewachsenen Spalte eines Baumstumpfes. Ich holte ihn wieder heraus und hielt ihn fest. Nach einer Weile entwand sich der Vogel wieder meinen Händen. Wieder liefen wir ihm nach, er versteckte sich wieder; als wir ihn entdeckten, hüpfte er weiter. Wie lange diese Jagd dauerte, war uns im Eifer nicht bewusst. Aber plötzlich stieg die Taube eine kleine Böschung hinauf und wir befanden uns auf der Wladimirskaja Chaussee. Vor lauter Freude über die Errettung bekreuzigten wir uns und dankten unseren Schutzengeln, dass sie uns errettet hatten, errettet durch den verwundeten Vogel. Wir fingen die Taube ein, Wera setzte sie in den Bastkorb, unbekümmert darum, dass die köstlichen Erdbeeren zerdrückt wurden. Sie deckte ihn mit ihrem Kopftuch zu.
Wir hatten es sehr eilig, nach Hause ins Weisse Haus zu kommen, denn Njanja, die heilkundig war, sollte die Taube begutachten und heilen. "Njanjuschka, du sollst unsere Taube heilen, der Sperber hat sie zerzaust, sie ist sicher noch zu retten. Schau sie dir an, wir werden sie füttern und gesundpflegen!" Njanja war böse und brummig. "Nichts werden wir tun, ich gebe sie Aleksandr und er wird sie umbringen. Was soll sich das arme Tier quälen. Fliegen kann es doch nicht mit dem ausgerenkten Flügel, und es ist ein Vogel des Waldes. Hier frisst ihn doch nur der Kater Mur, wenn er ihn erblickt! " Wir waren untröstlich. Was sollten wir tun?
"Njanjuschka, das ist kein gewöhnlicher Vogel!
Der liebe Gott hat ihn uns zur Errettung gesandt, wir dürfen ihn nicht töten, das wäre furchtbare Sünde und Undankbarkeit. Das darf nicht sein!" Wir waren dem Weinen nahe. "Was redet ihr da für Unsinn von Errettung! Ihr habt den Vogel gefunden und mitgebracht, und jetzt erfindet ihr noch eine Geschichte und nehmt Gott zum Zeugen, das dürft ihr nicht, das ist wirklich Sünde!" Was sollten wir tun? Ihr bekennen, dass wir an der Wladimirskaja waren?
"Njanjuschka, auf Ehrenwort, sie hat uns aus dem dichten Wald, in dem wir uns verirrt hatten, gerettet; wäre sie nicht gewesen, wer weiss, wo wir jetzt wären, glaub uns doch, Njanjuschka!" Njanja wurde nachdenklich. "An der Wladimirskaja seid ihr gewesen? Das ist euch doch streng verboten! Solchen Kummer bereitet ihr mir und den Eltern. Na wartet, lasst mich erst das arme Tier versorgen, dann erzähle ich es den Eltern! Das wird was geben!" Sie beugte sich umsichtig zur Taube herab und betastete ihr Gefieder. Das Tier blieb ganz ruhig. "Du liebes Gottestierchen, dich hat der böse Sperber übel zugerichtet! Na warte, wir werden dich hegen und pflegen und du wirst gesund werden, dann fliegst du wieder zu den Deinen. Und danke dir, dass du die beiden Bösen da errettet hast, verdient hätten sie es sicherlich nicht. Nur Kummer hat man mit ihnen!" Sie beschäftigte sich mit dem Vogel. "Weisst du, Njanjuschka", wollte Wera sich bei ihr einschmeicheln, "vielleicht war es doch ein Engel, der uns zu dem Ungehorsam veranlasste und uns in den Wald lockte, damit wir den Vogel fänden. Ohne uns wäre er doch verkommen!" Njanja wurde nachdenklich. Sie bekreuzigte sich und seufzte. "Unerforschlich sind Gottes Wege, auch aus dem Ungehorsam kann vielleicht etwas Gutes kommen, wer weiss. Die gute Taube hat euch errettet, und ihr habt sie errettet, und sicherlich war es Gottes Wille. Gut, dann werde ich den EItern diesmal nichts sagen. Aber ihr müsst mir versprechen, nie wieder dorthin zu gehen!" - "Wir versprechen es, Njanjuschka!", riefen wir erleichtert und umarmten sie stürmisch. Wera schaute mich bedeutungsvoll an. Später fand ich das Wort des Meister Ekkehart, und jene kleine Begebenheit mit der Wildtaube stand lebhaft vor meinen Augen:
"Wäre ich allein in der Wüste, wo mir gruselte, und hätte ich bei mir ein Kind, so verginge mir das Gruseln, und ich würde mich ermannen. So viel Adel und Lust liegt am Leben. Und könnte ich nicht ein Kind haben: hätte ich ein Tier, ich würde schon getrost sein."
Wladimir-Lindenberg-Raum im Heimatmuseum Reinickendorf


DAS HEIMATMUSEUM HAT JETZT EIN WLADIMIR-LINDENBERG-ZIMMERPhilosoph, Arzt, Schriftsteller
Riten und Stufen der Einweihung

Tiere offenbaren ihre Seele

Viele sprechen – meist mit recht fadenscheinigen Argumenten – Tieren eine Seele ab. Doch jeder, der mit ihnen zusammenlebt, weiß, dass sie beseelte Geschöpfe sind.
Der Dichter und Arzt Wladimir Lindenberg, der zeit seines Lebens eine sehr enge Beziehung zu Tieren gehabt hat, erzählt von seinen Begegnungen mit Freunden aus dem Tierreich, die ihm Einblick in ihre Seele gewährt haben.
Mysterium der Begegnung

Jenseits der Fünfzig. Reife und Erfüllung

Das Flügelrad
Gottes Boten unter uns
Evangelischer Dienst
Wladimir Lindenberg Haus
Wolodja. Porträt eines jungen Arztes

Bobik im Feuerofen. Eine Jugend in der russischen Revolution

Nachruf von Wolfgang Kasack
Wladimir Lindenberg war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Dem Vornamen und der Herkunft nach ein Russe, dem Nachnamen nach, der auf seinen Stiefvater zurückgeht, ein Deutscher, wurde er zu einem der bedeutenden Vermittler der russischen Kultur in Deutschland. Der 1902 in Moskau geborene und 1997 in Berlin verstorbene Russe aus dem alten Adelsgeschlecht der Tschelischtschews ist Autor von 36 Büchern, die er von 1948 bis 1994 in deutscher Sprache veröffentlichte. Ihnen geht ein Buch voraus, das er 1920, also mit achtzehn Jahren, zwei Jahre nach der Emigration aus der bolschewistisch gewordenen Heimat in Remscheid kurz vor dem Abitur geschrieben hat. Erst 65 Jahre später, als er schon ein berühmter Schriftsteller war, wurde es gedruckt. Dieses kleine autobiographische Buch hat er damals auf russisch geschrieben, gleichzeitig andere literarische Texte auf deutsch, aber sie sind unveröffentlicht.
Als russischer Schriftsteller der Emigration, der nicht nur russisch schrieb, steht Lindenberg selten, aber nicht allein in der russischen Literatur. Fjodor Stepun wechselte in Deutschland vom Russischen ins Deutschte, Vladimir Nabokov vom Russischen ins Englische, Iossif Brodski schrieb nach der Emigration seine autobiographische Prosa auf englisch, Boris Schapiro ist ein russischer und deutscher Lyriker. Alja Rachmanowa und Juri Tregubow haben ihre zahlreichen BГјcher nur in deutscher Sprache veröffentlicht.
Lindenberg ist eine Mehrfachbegabung. In Deutschland hat er in den zwanziger Jahren angefangen, Bildteppiche herzustellen, hat jahrzehntelang auch gezeichnet und gemalt. Seine Wohnung in Berlin war vornehmlich mit seinen in der Regel christlich ausgerichteten Wandbehängen und seinen Bildern geschmückt. Dazu kamen einige Ikonen und Büsten aus der Hand seiner Frau, Dolina Gräfin von Roedern (1887-1966), einer Bildhauerin, die er 1947 in Berlin kennengelernt hatte.
Lindenberg war Nervenarzt. Er hatte in Bonn studiert, hatte als Schiffsarzt Afrika und Südamerika kennengelernt und war 1947 bis 1959 Leiter der Hirnverletztenabteilung im Evangelischen Waldkrankenhaus in Berlin-Spandau. Danach hat er sich auf seine Privatpraxis beschränkt. Diese Arbeit brachte ihm das notwendige Geld zum Leben, aber er hat sie immer mit der schrftstellerischen Tätigkeit verbunden. Noch vom Rollstuhl aus, im Alter von über neunzig Jahren hat er Patienten behandelt.
Lindenberg war Berliner. In Bonn hatten ihn die Nazis 1936 verhaftet und bis 1941 ins KZ verbracht. Er war anschließend nach Berlin gegangen, wo seine Schwester lebte, und hatte sich bis zum Kriegsschluß mit einer Arbeit in einem pharmazeutischen Forschungslaboratorium durchgeschlagen. Als seine Wohnung den Bomben zum Opfer feil, baute er sich mit Freunden eine Baracke in Schulzendorf bei Tegel, und diese Notunterkunft - drei Zimmer durch Zusammenlegung mit der Baracke seiner Frau - blieb seine Wohnstätte bis zum Tode. Sie wurde über Jahrzehnte ein Zentrum der Begegnung geistig aufgeschlossener Menschen, eine Stätte stärkster positiver Ausstrahlung. Äußerlich war sie das Gegenteil jener Häuser, aus denen er stammte der riesigen vornehmen Villa aus dem Anfang des Jahrhunderts, die sich sein Stiefvater, der Großindustrielle Karl Lindenberg, bei Moskau gebaut hatte und 1917 aufgeben mußte, dem "Adelsnest" Krasnoje selo, wo seine Vorfahren die Tschelischtschews gelebt hatten, bis es die Revolutionäre in seinem Beisein niederbrannten, und dem Meditationsschloß der Tschelischtschews in Rybinsk, einer Art kleinerem Sanssouci, dem privaten Zentrum der Rosenkreuzer, in dem er seine Einweihung durch den Vater erhalten hatte.
Das Ungewöhnliche der Persönlichkeit und des Schicksals, das diese Hinweise auf den Lebenslauf andeuten, sei durch einige Details vertieft. Lindenberg hatte eine Schwester der Zarin - die Großfürstin Elisabeth - zur Patentante (die 1918 mit der Zarenfamilie Ermordete ist jetzt als Neumärtyrerin in den Kanon der Heiligen aufgenommen, 1982 durch die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland und 1992 durch die Patriarchatskirche in Moskau), hatte im Alter von elf Jahren China und Japan besucht. 1917 wurde der fünfzehnjährige Wladimir von den Roten zum Tode verurteilt, doch, nachdem er die Erschießungen der Mitverurteilten bereits erlebte hatte, im letzten Augenblick gerettet, da sich unter den Wachsoldaten der ehemalige Kutscher der Lindenbergs befand. Als Lindenberg in der Nazizeit als Häftling mit einer unbefristeten Dunkelhaft gefoltert wurde, vermochte er dank der geistigen Schulung im Rosenkreuzerschloß die Haftzeit in eine Meditationszeit umzuwandeln, Kontakt mit lebenden und verstorbenen Verwandten und Freunden aufzunehmen. Die Zeit des geplanten Quälens, des Leids wurde für ihn eine Zeit großer Erkenntnis, wurde ein Gewinn.
Alle Werke Lindenbergs haben ein ethisches Anliegen, verbinden Selbsterlebtes mit über Bücher vermittelter Erfahrung, also dem, was ihm in den Literaturen und Philosophien der Welt wesentlich war. Einige Zitate aus seinen Büchern mögen seine Haltung zum Leben und zum Schicksal veranschaulichen.
"Das ganze Leben, das für den Dummen nur materiell und vordergründig ist, ist eingebettet in Zeichen und Symbole, in Fragen und Antworten, und es liegt vor uns und wartet, daß wir in rechter Weise zugreifen".
"Von daher gewinnen Zufälle und Begegnungen den Charakter des uns Zugespielten, Zufallenden, Geschickten, des Schicksals, und wir beginnen dunkel zwar, doch immer deutlicher und sensibilisierter den Sinn von Begegnungen zu erahnen und ihnen einen Wert beizumessen. Damit ändert sich die Qualität unseres Lebens, es wird bedeutungsvoller, und wir erfüllen die Begegnungen, die Erfahrungen, die Erlebnisse mit größerer Würde".
"Wi steht doch unser aller Leben so sichtbar unter Seiner Führung. Solche Erlebnisse zeigen uns deutlich, daß wir, wenn wir uns noch so einsam und verlassen glauben, von einer unsichtbaren Hand gelenkt werden. Das Wissen aber um solche Führung ist eine ungeheure Verpflichtung. Bei jedem Denken und Tun sollten wir überlegen, tue ich es nur zu meinem eigenen Wohl, oder tue ich es für andere Menschen oder Geschöpfe".
Die Sinngebung des Lebens, die Anregung, nach den Fügungen im eigenen Leben zu suchen, das Hinweisen, sein Leben in den Dienst der Nächsten zu stellen, das sind Motive, denen Lindenberg immer neuen Ausdruck verliehen hat. Er hat über das "Mysterium der Bagegnung" ebenso geschrieben wie über "Gottes Boten unter uns", hat Art und Kraft des Gebets in verschiedenen Religionen veranschaulicht, das kluge und geistig helfende Verhalten am Krankenbett beschrieben und auch ein Buch dem Tode gewidmet, bei dem bereits der Titel Lindenbergs Sicherheit zeigt, daß sich unsere individuelle Existenz nich mit einem kurzen Erdenleben erschöpft: "Über die Schwelle".
Mein Buch Гјber ihn habe ich "Schicksal und Gestaltung" genannt, um die zwei Pole deutlich zu machen: unser gottgegebenes Schicksal mit den unendlich vielen wunderbaren FГјgungen, das wir erkennen und annehmen mГјssen, und unsere Aufgabe, unser Leben selbst zu gestalten, unsere Freiheit der Entscheidung zu nutzen, um die Verantwortung zu wissen, die wir fГјr unser Gestalten des Lebens auf der Erde und danach tragen.
Lindenbergs erstes Buch in dieser Richtung trägt den Titel "Die Menschheit betet". Das Buch führt in das Wesen des Gebets am Beispiel verschiedener Religionen. Er selbst fühlte sich in der Russisch-orthodoxen Kirche beheimatet und hatte eine nahe Beziehung zur Ikone in ihrer geistigen, religiösen Bedeutung. Aber er wußte um die Berechtigung und den Sinn der vielen Religionen. In diesem Buch formuliert er sein Anliegen, den Menschen "aus der Ausschließlichkeit und Intoleranz seiner religiösen Bindung, seines Dogmas" herauszuführen, ihm zu helfen "sich zu verinnerlichen, stille und schweigsam zu werden", "Demut und Gelassenheit" zu üben und "sich wieder an erhabenen Vorbildern zu orientieren". Das ins Zentrum seines Kapitels über die christiliche Ostkirche gestellte anonyme Buch aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts "Aufrichtige Erzählungen eines Pilgers, seinem geistlichen Vater mitgeteilt" bleibt Leitmotiv, wann immer er auf seine otrhodoxe Kirche zu sprechen kommt. Er stellt heraus, daß dieses Buch seine geistige Grundlage in der "Philokalie" (Dobrotoljubie) hat, der Sammlung von Gebets- und Unterweisungstexten der Kirchenväter, der Heiligen und der großen russischen Beter.
Lindenbergs 1959 erschienenes Buch "Mysterium der Begegnung" vermittelt besonders deutlich sein wesentliches ethisches Anliegen. Das mag auch der Grund sein, daß es 1997 als erstes ins Russische übersetzt worden ist, nachdem seit 1991 die politischen Schranken des Staates, dessen gewaltsame Errichtung und dessen Zerfall er erlebte, zusammengebrochen sind. Im ersten Satz formuliert er die Ausgangslage: "Der Mensch von heute weiß kaum noch, was eigentlich Begegnung ist". Lindenberg shreibt natürlich über Begegnungen mit anderen Menschen und mahnt, sie nicht als "Zufall" abzutun, sondern nach ihrem Sinn zu fragen, abter er geht außerdem auf wesentliche materielle und geistige Faktoren ein, denen der Mensch im Leben begegnet. An den Anfang setzt er die "Begegnung mit dem eigenen Ich", das "reizvolle und doch beängstigende Versteckspielen des Menschen mit seinem eigenen Ich", und stellt Notwendigkeit und Gewinn der Selbsterkenntnis heraus. Der Mensch "ist in dem Grade, in dem er sich selbst zu gestalten vermag, auch Herr seines Schicksals". Im Kapitel über die Begegnung mit andern Menschen betont Lindenberg den Wert der Demut, Ehrfurcht und Verehrung, auch der "wirklichen Güte" dem Dritten gegenüber: "Es gibt nur eine Heilung des Menschen - die Lebendigmachung der Begegnung durch die Liebe". Im Kapitel "Begegnung mit dem Schicksal" heißt es: "Der weise Mensch, der nahezu vollendete, der selbstverwirklichte, steht, sowiet es ihm in diesem Dasein möglich ist, janseits des Schicksals. Er nimmt es bewußt, wie es auch auftreten mag, in sein Dasein auf, er sagt ein volles Ja dazu und beugt sich ihm, ohne zu zerbrechen. […] Er sieht als ein winziges Körnchen, das er ist, in dem unendlichen Kosmos". Weitere Kapitel sind dem Verhältnis zur Arbeit und den die Menschen umgebenden Dingen gewidmet. Unter dem "Wunder der allumfassenden Begegnung" veranschaulicht Lindenberg vor allem das Leben in und mit den vielen, jahrhunderte- oder jahrtausendealten Kulturen, deren Symbole er zueinander in Beziehung setzt: "Es ist beglückend zu erleben, daß das, was wir heute oder irgendwo in einer Kirche und in einer Liturgie erleben, uns bis an die Quellen unseres Seins zurückführt und uns auf geheimnisvolle Weise mit ihnen verknüpft". Er spricht über die Wunder des Altags: "Das Wunder erhöht den Menschen und ist ihm eine Brücke zu den göttlichen Menschen". Lindenberg geht auch auf "Begegnungen mit dem Dämon" ein, wählt aber nicht nur Hexenverfolgungen und Teufelsglauben als Beispiele, sondern zeigt auch an Gestalten wie Hitler und Stalin, am Vorherrschen des Materialismus und an Phänomenen wie der Verachtung von Minderheiten das Wirken dämonischer Kräfte in unserer Gegenwart. Große Bedeutung gibt er der "Begegnung mit den Meistern", unter denen er Eltern und Großeltern, Priester, menschlich-ethisch herausragende Persönlichkeiten, aber auch Ahnen und Heilige nennt. Er erinnert sich an seine Begegnung als Kind mit einem Starez, um den Segen zu empfangen, und erwähnt, daß auch Gogol, Dostojewski, Tolstoi und Solowjow zu Starzen, den weisen russischen Gläubigen in Klöstern, gepilgert seien. Er spricht in diesem Zusammenhang auch über die "Verantwortung in der Begegnung" und unterstreicht die Verantwortung derer, an die sich Menschen um Hilfe und Rat wenden, die Vorgesetzten, Richter, Ärzte, Seelsorger, Eltern, all derer, "denen das kostbarste Gut, die lebendige menschliche Kreatur anvertraut ist".
"Das zentralste und beglückendste Erlebnis der Menschen ist die Begegnung mit Gott", so beginnt Lindenberg das folgende Kapitel, geht auf ältere Kulturen ein, in denen diese Verbindung zum Alltag gehörte, auf die Bibel, das Christentum und - wie in allen seinen Büchern - auf andere Religionen. Abschließend spricht er über das begnadete Erleben des schöpferischen Menschen in der Intuition. Zum Motiv "Begegnung mit dem Tode" hat Lindenberg viele Äußerungen über die Fortexistenz des Menschen nach dem Tod und über die Bereicherung der Einbeziehung von Sterben und Tod in das Leben zusammengestellt. In allen Kapiteln wählt er zur Veranschaulichung den Kontrast: er stellt seine Sicht anderen Meinungen oder Haltungen gegenüber und verbindet die seine mit Zitaten aus den Grundschriften der Religionen der Welt, Werken vor Philosophen wie Martin Buber, Graf Karlfried von Dürckheim, Kung Fu Tse oder von Schriftstellern der Weltliteratur, wie Dostojewski, Lew Tolstoi, Goethe, Novalis, Brentano. Der Ausklang des Buches lenkt den Blick allein auf die Erfüllung durch Begegnung.
Lindenberg wurde siebzig Jahre, als sein Buch über den Tod erschien. Der Tod ist für ihn eine "Schwelle", die der Mensch unter Zurücklassen seines Körpers überschreitet, das Leben ein "Gast-Sein", wie es der Mensch mehrfach zum allmählichen geistigen Wachstum durchläuft. Mit diesem Buch und mit vielen Kapiteln in anderen Büchern will er den Menschen helfen, Sterben und Tod in ihr Leben einzubeziehen, Todesangst zu überwinden, das Wissen um die Weiterexistenz nach dem Leben im irdischen Körper anzunehmen und zu verinnerlichen. Für das Buch "Über die Schwelle" hat sich Lindenberg offenbar intensiv mit der Wiederverkörperungslehre der Druiden befaßt, da er sie hier erstmals darstellt und so siene im "Mysterium der Begegnung" enthaltene Berufung auf die indische Philosophie erweitert. Er widmet der Frage der mehrfahen körperlichen Existenz eines Individuums viel Raum, verweist auf viele Schriftsteller, die sie in ihr Weltbild einbezogen haben, und betont, daß im christlichen Bereich dieses Wissen nur verlorengegangen ist. Er erinnert daran, daß für die frühen Christen unsere mehrfache Verkörperung eine Selbstverständlichkeit war, bis das Konzil von Nicäa 325 die Lehren der Gnostiker verwarf. Lindenberg ordnet auch Aussprüche Christi wie "Was der Mensch säat, das wird er ernten" in das Gesetz des Karma ein.
Mit Ergahrungen aus seinem eigenen Leben stärkt Lindenberg seine Aussagen über den Tod - aus den Begegnungen mit Sterbenden und den mehrfachen eigenen Todeserfahrungen, die er in seinen Büchern schildert. Er verbindet auch hier das Autobiographische mit den Ergebnissen seiner Beschäftigung mit den Religionen der Welt, mit den Philosophen und ihrem Denken, mit seinem ständigen Anliegen, durch sein Schreiben wie durch sein Handeln den Menschen zu dienen.
Beispielweise gibt Lindenberg das Gespräch mit einer Frau wieder, die, schwer krebskrank, das Leben nicht loslassen konnte, weil noch niemand bereit gewesen war, mit ihr über den Tod zu sprachen. Jene Frau litt darunter, daß ihr Arzt dem Gespräch auswich: "Aber, aber, wer wird denn schon an den Tod denken". Sie fragt nun Lindenberg nach dem Sein nach dem Tod. Dessen erster Satz lautet: "Wenn Sie mich fragen, so möchte ich sagen, daß ich freudig dem Tod gegenüberstehe". Der Hinweis auf die Äußerung des Arztes verwundert kaum, auch Tolstoi hat in seiner Schilderung des Sterbens des Iwan Iljitsch das so weit verbreitete Ausweichen und beschönigende Lügen der Umwelt angeprangert. Aber die Formulierung "freudig dem Tod gegenüber" ist selten - bei Dostojewski finden wir sie - und sie stößt bei vielen Menschen auf Univerständnis. Doch gerade diese Haltung sollte unser Ziel sein. Meine letzten Besuche bei Lindenberg bestätigten nicht nur seine Bereitschaft zu sterben, sondern eine ausgeglichene Mischung zwischen Sehnsucht nach dem Tod und Schicksalsergebenheit.
Zu der Sterbenden sage er weiter: "Ich liebe das Leben, obwohl ich selbst schon alt bin, aber es hat mir so viel Schönes geschenkt, auch Schweres natürlich, aber das Schöne und Gute überwiegt, und dennoch weiß daß nach dem Tod eine neue Geburt erfolgt und daß alles, was auf mich dort wartet, noch viel schöner und erhabener sein wird, als es hier war. Ich wäre kein Christ, wenn ich das nicht glauben würde. […] Sicher bin ich überzeugt, daß ich Seelen von manchen lieben Menschen, die jetzt sich in der Transzendenz geläutert haben, treffen werde und diese mir Lehrer und Führer sein werden, wie sie es mir im Leben gewesen sind. Ich erwarte eine lichte, beglückende, heitere, harmonische Welt auf jenem Plan, und ich bin gewiß, daß wir die Höllen, die wir einander hier auf Erden für uns selbst und für andere schaffen, hinter uns lassen".
Als einen seiner GrГјnde fГјr die GewiГџheit, mit der er seine Meinung vertritt, nennt Lindenberg das Betrachten der Gesichter Verstorbener. Er habe "ihre erhabene Ruhe und Gelassenheit bewundert", es mute ihn an, "als ob ein Engel im letzten Augenblick dem Sterbenden, der noch von Schmerz und Qual gezeichnet war, den Stempel seines Friedens aufdГјckte".
Eines der ersten Bücher, das Lindenberg Ende der vierzier Jahre schrieb, schildert das Schicksal von Menschen, die sehr früh aus dem Leben geschieden sind. Die Wahl des Themas war eine Folge des Krieges, der so viele junge Menschenleben forderte. Auch Lindenberg verlor liebe Freunde. In Rußland hatte er eine mehrwöchige Begegnung mit dem Dichter Sergej Jessenin gehabt, der sich 1925 das Leben nahm. Dieser hatte die Spannung, auf dem Dorf großgeworden zu sein, dann in das Bohemeleben der Großstädte geworfen zu werden, auch die spätere Dorffeindlichkeit des sowjetischen Systems nicht ertragen. Er ist einer, über die Lindenberg in diesem Buch schreibt. In der ersten Fassung nannte er das Buch "Die Unvollendeten. Lebensläufe früh verstorbener Dichter", in der zweiten "Frühvollendete". Die erste ist 1948, die zweite 1966 erschienen. Der Wechsel des Titels deutet sein Reifen zum Erkennen des Schicksalhaften eines frühen Todes an.
Wladimir Lindenbers Tätigkeit als Maler steht ebenso wie sein Schreiben in ständiger Verbindung mit seiner russischen religiösen Tradition. Er wuchs mit Ikonen auf, also mit religiösen Bildern, deren geistiger Inhalt weit wesentlicher ist als die künstlerische Umsetzung. Er hat auch der "Heiligen Ikone" gegen Ende seines Lebens ein eigenes Buch gewidmet. Als der Stammsitz der Tschelischtschews 1917 niedergebrannt wurde und sein Großvater ein Opfer der Flammen, rettete er aus der Hauskirche "eine kleine, ganz geschwärzte Ikone der Muttergottes". Er war, wie er berichtet, die "Muttergottes von Wladimir", eine "Gottesmutter des Erbarmens", bei der die Gottesmutter den geneigten Kopf an das Kind schmiegt, das hilfesuchend zu ihr aufschaut. Das Urbild der Muttergottes von Wladimir kam zwischen 1120 und 1130 von Konstantinopel nach Kiew und 1155 in jehen Ort, der heute Wladimir heißt. Die alte Ikone aus dem Tschelischtschewschen Familienbesitz hat Wladimir Lindenberg 1918 bei der Emigration nach Remscheid mitgenommen.
In seinem Buch über die erste Zeit in Deutschland veranschaulicht er, wie ihn nach der Emigration diese Ikone mit ihrem "Geruch nach Kirche und Hausaltar" in seine Heimat versetzte. Von der Ausgestaltung seiner Bonner Studentenbude heißt es - wobei Lindenberg in der für seine Autobiographie typischen Weise über sich wie über einen dritten schreibt: "Über das (gestickte russische, von seiner Patentante, der Schwester der Zarin, stammende) Handtuch hängte er die alte Tschelischtschewsche Ikone der Muttergottes und das alte Kreutz von 1380, mit dem der heilige Sergius von Radonesch seinen Anhen Brenko gesegnet hatte. So, nun war die Kontinuität mit seiner Heimat und seiner Familie wieder hergestellt, hier in der Dürftigkeit, in der Fremde".
Lindenberg lebte bis zu seinem Tod seine Verwurzelung im russischen Fürstentum. Der hier erwähnte Brenko ist einer seiner unmittelbaren Vorfahren, und dessen Opfertod verdankte der Großfürst Dmitri Donskoi 1380 seinen berühmten Sieg über die Tataren. In Berlin hing eine Darstellung jener Schlacht über Lindenberg Eßtisch.
Als sein Vater während der Revolutionswirren aus Moskau fliehen mußte, begab er sich mit dem Sohn in Bauernpelze verkleidet zum Abschiednehmen zur Ikone der Muttergottes von Wladimir in die Uspenski Kathedrale des schon geschändeten Kreml. An dieser Stelle erbat er den Segen für Wladimir und sich, ging dann zum Sarg des Dmitri Donskoi und den anderen Särgen der Zaren, da ihre Verwandtschaft mit diesen für sie zum ständigen Bewußtsein gehörte.
Bei der Emigration nach Deutschland nahm Wladimir Lindenberg die Kontinuität über die Jahrhunderte mit und setzte sie in täglich gelebte Gegenwart um. Die beschriebene Stelle im Bonner Zimmer wurde zur Stätte des morgendlichen und abendlichen Gebets: "Er befahl sich, sein Denken und Handeln in die Hände Christi, der Muttergrottes und der Heiligen, besonders seines Ahnen und Namensgabers, des heiligen Großfürsten Wladimir..."
Dort in Bonn hat Lindenberg angefangen, auch als bildender Künstler tätig zu sein. In "Bobik in der Fremde" schreibt er: "Am liebsten hätte er, wie die Malermönche in den Klöstern, Ikonen gemalt. Er hatte sich viel mit der Geschichte und der Kunst der Ikonenmalerei befaßt. Aber es schien ihm vermessen, sein Zummer ganz mit sakralen Dingen zu schmücken". So beschloß er, die "alte Tradition der byzantinischen Bildwirkerei in veränderter, moderner Form, aber aus altem Geist aufzunehmen". In einem anderen Buch zitiert Lindenberg alte Anweisungen zur geistigen Zurüstung des Ikonenmalers - in Fasten, Demut, Schweigen, Gebet. Wenn er formuliert: "Jeder Handgriff, das Bereiten des Holzes, das Anrühren der Farben, das Auflegen des Goldgrundes sind vorgeschriebene, sakrale Handlungen", dann spricht er auch über seine Haltung zum eigenen künstlerischen Schaffen.
In Bonn - so berichtet er - "zog es ihn nach Hause zu seiner Bildwirkerei. Sein erstes Bild war die Darstellung des Heiligen Abendmahls". "Die Verknüpfung des stillen besinnlichen Aneinanderreihens von farbigen Fäden, die sich zu Flächen ausbreiten, mit den immer sich vertiefenden, hin und her gehenden Gedanken" erfüllten ihn ganz von innen her. "Er war wie ein Malermönch in einem entlegenen Kloster".
Dieser Umsetzung des Wissens um das Malen von Ikonen in eigene schöpferische Tätigkeit war das Erleben anderer Kunst, die aus gleichem Geist geschaffen war, vorausgegangen. Bei der Chinareise zu den Eltern eines - übrigens durch den Symbolisten Andrej Bely zu den Lindenbergs geführten - chinesischen Studenten bewegte ihn die Bindung an die Ahnen, die hier nicht wie in Rußland etwa ein Jahrtausend erfaßte, sondern mehr als dreitausend Jahre. In der Autobiographie hat er die Worte jenes chinesischen Studenten festgehalten: "Du wirst doch nicht glauben, daß solch ein Bild nur ein Strück Papier und darübergemalte Tusche ist? Der Maler sammelt sich, ehe er es malt, er konzentriert seine geistigen Kräfte darauf, er meditiert und ruft die Geister seiner Ahnen und die Götter herbei, ihm bei diesem Tun zu helfen, und was dann entsteht, ist ein Lebendiges, ein Beseeltes, ein von sich aus Weiterwirkendes. Das ist das Geheimnis der Kunst".
Dem chinesischen Erlebnis entsprachen ein französisches und ein römisches während einer Westeuropareise kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Sie führte ihn nach Deutschland zu den deutschen Verwandten der Zarenfamilie und nach Frankreich zur Urgroßmutter, die eine Tochter des Religionsphilosophen Alexej Chomjakow war. Bei ihr erlebte der Junge erstmals, welche Kraft und welch beglückendes Heimatgefühl von den Ikonen eines im Ausland eingerichteten Hausaltars ausgeht. In Rom begegnete er den "farbigen Fresken aus der frühchristlichen Zeit". Hier entstand die Verbindung unmittelbar, denn ihm "waren alle diese Symbole aus der Welt der Ikonen vertaut", er spürte, "in welcher Freude und Himmelsnähe die Christen jener Zeit gelebt haben mußten".
Nicht nur Bildteppiche hat Lindenberg aus diesem geistig-religiösen Kinstempfinden heraus geschaffen. Er hat auch selbst Fresken gemalt. In der Nazizeit hatte er sich im Ahrtal - zwischen Bonn und Koblenz - eine bis zur Verhaftung 1936 genutzte Zuflucht geschaffen und sie selbst ausgemalt. Er hatte dafür den auferstandenen Christus gewählt, jenen Christus, der dem ortodoxen Christen so viel näher ist als der Gekreuzigte, das zentrale Symbol der katholischen und evangelischen Kirche. Beim Malen "war er mit seinem Geiste in die fernen Zeiten entrückt gewesen, in denen jenes gewaltige Mysterium sich vollzog".
Zum 85. Geburtstag Wladimir Lindenbergs wurde von ihm geschaffene bildende Kunst ausgestellt: Temperabilder, Aquarelle, Wandteppiche, Zeichungen, Hinterglasmalerei. Ein kleiner Katalog des Bezirksmats Reinickendorf von Berlin enthält einige Abbildungen. Weitgehend andere habe ich gleichzeitig in mein Buch über ihn aufgenommen. 1993, also bald nach dem 90. Geburtstag Lindenbers, brachte Gertrud Züricher einen Band heraus, der Zitate aus dem Werk Lindenbergs, Photographien und schöne Reproduktionen wichtiger Bilder und Wandteppiche enthält. Viele sind nur dadurch überliefert.
Dorotheus Graf Rotkirch, der im Berliner Katalog Lindenberg als Maler vorstellt, erwähnt in den sechziger Jahren entstandene Bildwirkereien, auch einen Zyklus von 1943 mit Zeichnungen zum Lukas-Evangelium. Er und jeder, der auch nur die Reproduktionen sieht, ist von Bildern aus der Endzeit des Krieges, die dem Abschied gewidmet sind. erschüttert: Menschen, die einander in tiefer Liebe verbunden sind und vom Staat zur Trennung gezwungen werden - die Wahrscheinlichkeit des endgültigen Abschieds vor Augen, und - durch die Kraft des Malers - die Liebe und das Leid in den Augen. Lindenberg hat vor allem Menschen und an ihnen das seelische Erleben gestaltet. Das gilt für sein Christusdarstellungen oder die des Heiligen Franziskus von Assisi ebenso wie für Unbekannte, denn was den Beschauer anspricht, ist das Grundsätzliche, das Allgemeinmenschliche. Das gilt z.B. auch für seine Zeichnung von Christus auf dem Ölberg - wir sehen einen unglücklichen, einsamen, doch keinen verzweifelten, keinen sich auflehnenden, jungen Mann. Wenn Lindenberg Jesus darstellte, betonte er das Junge an ihm.
Die Bilder wurden gegen Ende seines Lebens weitgehend verkauft, nicht von ihm. So ist es gut, daГџ wenigstens ein Teil in Abbildungen fГјr die Allgemeinheit erhalten blieb.
Eine Vorstellung von Lindenbergs Wirken als Arzt geben seine Bücher aus diesem Bereich. Auch sie sind als Hilfe für die Menschen gemeint. Sein erstes Buch dieser Art, "Gespräche am Krankenbett", entstand unmittelbar nach Abschluß der Krankenhaustätigkeit. Es war sein Angliegen, viele Kranke und auch Ärzte anzusprechen und nicht nur einzelne. Ihm lag daran, Allgemeingültiges aussagen, Kranke "aufzuklären, sie anzuregen, über sich selbst nachzudenken". Seine Aufgabe sah er vor allem darin, kranken Menschen zu verhelfen, ihre Krankheit anzunehmen, sie in ihr Leben einzuordnen. In dem Buch waren Kapitel über Geduld und und über Blumen zu erwarten, weniger erwartete wie über das "Lächeln" als Mahnung für die Ärzte und über das "Danken" als Mahnung für die Patienten zeigen schon vom Titel her Lindenbergs besonderen Ansatz.
1962 veröffentlichte er ein Buch "Briefe an eine Krankenschwester", nachdem man ihn um einen "Leitfaden der Ethik für Krankenschwestern" gebeten hatte. Die von ihm gewählte Form der Darstellung hat nicht das Akademische des vorgeschlagenen Titels, sondern die natürliche Unmittelbarkeit des menschlich Helfenden. Es geht ihm um die Alltagsfragen im Krankenhaus, um einen Beitrag "zum rechten Menschenbehandlung". Er schreibt auch über die im Beruf der Krankenschwester so ernste innere Spannung zwischen "Pflichtgefühl und Liebesdienst" oder die zwischen Weisungsabhängigkeit und Eigenverantwortung. Wohltuend ist in dem Buch der Brief zu "Lächeln und Fröhlichkeit" und - ebensowenig überraschend, und sehr hilfreich - der über Sterben und Tod.
Es gibt fein Werk von Lindenberg, das nicht Christliches, Ethisches, Russisches und im Alltag Erlebtes miteinander verbände. Es gibt kein Bild und kein Buch von ihm, das man nicht mit Gewinn betrachtet oder gelesen hätte. Es dürfte keinen Patienten geben, der nicht irgendeinen Gewinn, also etwas Heilendes aus dem Gespräch mit ihm gezogen hätte. Es gab keinen Freund, den die Begegnungen mit Wladimir Lindenberg nicht bereichert hätten. Einer von diesen durfte ich sein, und diese Freundschaft ist eines der schönen Geschenke meines Schicksals.
Wladimir Lindenberg. Ein Portrait in Texten und Bildern

Schicksal und Gestaltung. Leben und Werk Wladimir Lindenbergs

Biografie
Arzt, Schriftsteller und Maler
Geb. 16.05. 1902 in Moskau/ Rußland
Gest. 18.03. 1997 in Berlin
Wladimir Lindenberg ist der Stiefsohn des Remscheider Ingenieurs Karl Lindenberg - der in Rußland Schmalspurbahnen herstellt - und dessen Ehefrau Jadwiga, geb. Studenska, polnische Adlige. Sein leiblicher Vater (Sascha) kam auf Seiten der Weißrussen bei Kämpfen gegen die Revolutionäre ums Leben.
Er besucht in Moskau ein deutsches Gymnasium und übersiedelt im Alter von 16 Jahren mit seinem Stiefvater vor den Wirren der Russischen Revolution zurück in die Heimatstadt des Vaters. Mutter und Geschwister folgten später. Im bergischen Remscheid schließlich holt der junge Lindenberg das Abitur nach, studiert ab 1921 in Bonn Medizin und promoviert 1926 zum Dr. med. Bis 1929 arbeitet Wladimir Lindenberg zuerst als Assistenzarzt an der Bonner Universitätsklinik, fährt anschließend für ein Jahr als Schiffsarzt zur See, hat von 1930 bis 1935 eine Oberarzt-Stelle im Hirnverletzten-Krankenhaus in Bonn inne und führt ab 1933 dazu auch noch eine eigene Praxis.
Bereits in den Zwanziger Jahren beginnt die Mehrfachbegabung Lindenberg mit der Herstellung von Bildteppichen. Dazu zeichnet und malt er Bilder, die in ihrer Thematik immer wieder von seiner russisch-religiösen Tradition geprägt sind, der sich Wladimir Lindenberg auch später schriftstellerisch zuwenden wird.
Am 11. Mai 1937 verurteilt ihn ein Gericht unter der Vorwurf "ausgedehnter homosexueller Betätigung" wegen Vergehens gegen den Paragraphen 175 zu vier Jahren Gefängnis. Lindenberg, bei Machtübernahme der Nazis 1933 einer der Mitbegründer der "Nationalsozialistischen Kriegsopfer- Versorgung", nimmt dies klaglos an und stellt sogar - nicht zuletzt, um seinen "Besserungswillen" zu dokumentieren -, in der Strafanstalt Wittlich bei Trier den Antrag, Schwerstarbeit leisten zu dürfen. Daraufhin wird er ins Emsland-Lager Neusustrum überstellt.
Es folgen drei harte Jahre Fronarbeit im Moor. Im Winter 1940 ist Wladimir Lindenberg bis auf die Knochen abgemagert, aber er hat die Strapazen überstanden und könnte wieder ein freier Mann sein - wenn nicht inzwischen Homosexualität als politisches Vergehen gelten würde: im Januar 1941 soll er deshalb in Vorbeugehaft für das Konzentrationslager Sachsenhausen genommen werden.
Um der KZ-Haft zu entgehen, stellt er am 1. Februar 1941 einen Antrag auf "Freiwillige Entmannung", und am 22. Mai wird er tatsächlich operiert. Nach nationalsozialistischer Definition ist er nun "kein Mann mehr" - und darf deshalb auch nicht (entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch) zur Wehrmacht und an die Front.
Statt dessen wird Wladimir Lindenberg Leiter des Forschungslabors einer pharmazeutischen Firma in Berlin-Waidmannslust. 1944 flieht der Mediziner mit seiner Frau, der Bildhauerin und Pianistin Dolina Gräfin von Roedern, vor den zunehmenden alliierten Bombenangriffen aus Wilmersdorf, überlebt die Wirren des Krieges, arbeitet 1946/47 in einem Behelfskrankenhaus in Berlin-Heiligensee und ist von 1947 bis 1959 Chefarzt der Spezialabteilung für Hirnverletzte im Waldkrankenhaus Berlin-Spandau.
Neben seiner medizinischen widmet sich Lindenberg ab 1947 nun auch zunehmend seiner vielfältigen schriftstellerischen Arbeit. Insgesamt 36 Bücher erscheinen zwischen 1948 bis 1994 in deutscher Sprache. Ein noch auf russisch entstandener autobiografischer Text, den der damalige Abiturient Lindenberg bereits 1920 geschrieben hat, wird erst 65 Jahre später veröffentlicht. Da ist er bereits ein angesehener Schriftsteller, der neben seinem vielfältigen künstlerischen Schaffen weiterhin als Mediziner tätig ist. 1959 - mit immerhin 57 Jahren! - eröffnet Wladimir Lindenberg in seinem Holzhaus in Schulzendorf noch eine Facharztpraxis für Neurologie und Psychiatrie, wo der seit 1966 Verwitwete bis ins hohe Alter auch noch regelmässig praktiziert.